DIE ZEIT 23/2003
„Man verliert viele Freunde“
Gierige Manager, überforderte Aufsichtsräte, machtlose Aktionäre – dem Land gehen die ehrbaren Kaufleute aus, sagt Jürgen Heraeus.
Ein ZEIT-Gespräch mit dem Familienunternehmer
Die Zeit: Herr Heraeus, gibt es keine ehrbaren Kaufleute mehr?
Jürgen Heraeus: Es gibt sie noch, aber sie sind nicht mehr das Leitbild. Es ist ein Begriff, der an alte Werte erinnert, die jenseits von Geld liegen. Viele haben das vergessen. Wenn Manager heute untereinander vergleichen, wer der Beste ist, dann manchen sie es an ihren Bezügen fest.
Zeit: Was zeichnet den ehrbaren Kaufmann aus?
Heraeus: Um es an einem Beispiel zu sagen: Als ich hier in den sechziger Jahren angefangen habe, wurde der gesamte Edelmetallhandel am Telefon abgewickelt, ohne schriftliche Bestätigung. Wenn dann einer am nächsten Tag sagte, er habe sich geirrt und wolle den Kauf gar nicht, dann wurde er aus der Community ausgeschlossen. Mit dem hat keiner mehr ein Geschäft gemacht.
Zeit: Warum funktioniert dieser Ehrenkodex heute nicht mehr?
Heraeus: Dahinter steckt ein Werteverfall in der gesamten Gesellschaft, nicht nur in den Unternehmen. Fehlende Werte werden durch juristische Klauseln ersetzt. Nichts läuft mehr ohne Juristen, es geht nur noch darum, alle rechtlichen Kniffe, Haken und Ösen richtig einzusetzen. Aber es gibt auch schon die ersten Fälle, wo der eine oder andere Manager merkt, dass es unabhängig von rechtlichen Fragen auch eine moralische Ebene gibt.
Zeit: Zum Beispiel?
Heraeus: Ich kann mir vorstellen, dass Herr Esser…
Zeit: …der frühere Mannesmann-Chef…
Heraeus: …nicht sehr glücklich ist, wenn er die finanzielle Situation, die sich für ihn verbessert hat, mit der gesellschaftlichen Situation vergleicht, in die er sich gebracht hat.
Zeit: Was muss sich ändern?
Heraeus: Wenn sich nichts ändert, dann werden sich viele Familienunternehmer in Deutschland, auch die Gesellschafter unseres Hauses, überlegen, ob sie weiter ihr Unternehmen betreiben wollen oder ob sie nicht lieber Kasse machen.
Zeit: Das klingt nach Verbitterung.
Heraeus: Ich bin nicht verbittert. Ich bin überzeugt, dass man Anhänger findet, damit sich die Welt nicht weiter in eine Richtung entwickelt, wo am Ende die Marktwirtschaft nicht mehr toleriert wird – weil sich das Management auf Kosten der Aktionäre bereichert, weil die Unterschiede bei der Vergütung von Managern und Arbeitern Ausmaße annehmen, die die Belegschaft nicht mehr nachvollziehen kann.
Zeit: Wie ist es zu dieser Explosion der Gehälter gekommen?
Heraeus: Wenn man früher zeigen wollte, dass man vorangekommen ist, dann war für das soziale Umfeld der jeweilige Titel die Dokumentation des Aufstiegs: Handlungsvollmacht, Prokura, Direktor. Heute sind die Hierarchien flacher, und viele Titel haben keine Bedeutung mehr. Was bleibt dann noch? Dann bleibt nur noch das Einkommen, um sich zu profilieren.
Zeit: Selbst BDI-Präsident Rogowski hat sich über die „Raffgier“ einiger Manager beklagt. Was ist Raffgier, was ein angemessenes Gehalt?
Heraeus: Es gibt auch auf diesem Sektor einen Markt. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, wenn einige Manager sagen, sie müssten so viel verdienen wie ein Vorstand in den USA. Das ist kein akzeptabler Vergleich. Es gibt weniger als fünf deutsche Manager, die in den vergangenen zehn Jahren ein Angebot aus Amerika bekommen haben und dort hingegangen sind. Ich kenne keine einzige Bank, bei der ein deutscher Vorstand von einer amerikanischen Bank abgeworben wurde.
Zeit: Also müsste man die Managergehälter gesetzlich deckeln, wie jetzt gefordert wird?
Heraeus: Davon halte ich nichts. Aber wenn einer mehr als fünf Millionen Euro jährlich verdient, muss man schon fragen, welche besondere Leistung das rechtfertigt.
Zeit: Ist es sinnvoll, die Vorstandsbezüge einzeln offen zu legen, um die Gier zu bremsen?
Heraeus: Im Grunde sind die Gehälter ja längst bekannt, weil die Aktiengesellschaften angeben, welche Summe der gesamte Vorstand bekommt. Außerdem ist das Gehalt in Deutschland ein heikles Thema, leider. Wer viel verdient, hat viele Neider, selbst ein normales Vorstandsgehalt ist kaum vermittelbar. Ich habe als Geschäftsführer früher 1,3 Millionen Mark verdient. Schon damit werden Sie an den Pranger gestellt. Damals wollten bei uns selbst unsere Gewerkschaftsvertreter gar nicht so genau wissen, wie viel die Geschäftsführung bekommt, damit sie es ihren Leuten nicht sagen mussten. Das ist ein Phänomen unserer Gesellschaft: Auf der einen Seite gibt es Exzesse, auf der anderen Seite wird nicht einmal der Leitsatz akzeptiert, dass jemand, der viel leistet, auch viel verdienen darf.
Zeit: Warum genehmigen Aufsichtsräte manchen Managern wahnwitzige Gehälter?
Heraeus: Der Aufsichtsrat ist offensichtlich nicht immer frei, weil seine Mitglieder in ihrem eigenen Unternehmen die Preise nicht verderben wollen. Allerdings wird der Fall Mannesmann…
Zeit: …wo Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann und IG-Metall-Chef Klaus Zwickel mit einer Anklage rechnen müssen…
Heraeus: …dazu führen, dass Aufsichtsräte maßvoller werden, wenn sie umfangreiche Gehaltspakete verabschieden. Sie könnten ja mal danach gefragt werden.
Zeit: Was läuft in den Aufsichtsräten schief?
Heraeus: Die Mitbestimmung verhindert, dass eine offene Diskussion geführt werden kann. Wenn sie offen diskutieren und zum Beispiel einen Vorstand kritisieren, weil er schwach ist oder sein Geschäft nicht im Griff hat, dann weiß das drei Stunden später das ganze Unternehmen. Dann ist dieser Vorstand so stark beschädigt, dass sie ihn gleich abberufen können.
Zeit: Aber es gibt doch auch getrennte Sitzungen der Arbeitgeberseite im Aufsichtsrat.
Heraeus: In unserem Unternehmen gibt es sie nicht, und es macht auch wenig Sinn, den Aufsichtsrat zu teilen. Dann hat man im Grunde ja zwei Räte. Besser wäre es, das Gremium zu verkleinern. Mit 20 Mitgliedern ist es einfach zu groß, da kommt keine vernünftige Diskussion auf. Wenn man die Zahl der Mitglieder halbieren würde, bekäme jeder die doppelte Vergütung. Dann wären die Aufsichtsräte anständig bezahlt, und es wäre nicht teurer für das Unternehmen.
Zeit: Deutschlands Manager verdienen zu viel und deutsche Aufsichtsräte zu wenig?
Heraeus: Es gibt extreme Unterschiede, und die weiten sich gerade noch aus. Ich bekomme bei meinen diversen Mandaten 20000 bis 30000 Euro. Das ist sicher angemessen.
Zeit: Bei der Allianz bekommt ein normales Aufsichtsratsmitglied 4000 Euro im Jahr…
Heraeus: Dafür würde ich es nicht machen…
Zeit: …das ist auch nur die fixe Vergütung. Der Clou ist, dass Allianz-Kontrolleure ein Vielfaches einstreichen, wenn der Konzern eine hohe Dividende ausschüttet. Das machte im letzten Jahr 71500 Euro pro Kopf aus.
Heraeus: So etwas war früher ja üblich, um die Aufsichtsräte zu animieren, dass sie den Aktionären eine ordentliche Dividende gewähren. Aber diese variable Vergütung halte ich für völlig falsch, weil die Kontrolleure gerade nicht daran interessiert sein dürfen, die Bilanz aufzublähen oder um jeden Preis eine Dividende auszuschütten. Und die Theorie von Herrn Cromme…
Zeit: …dem Vorsitzenden der Corporate-Governance-Kommission…
Heraeus: …der sagt, dass Aufsichtsräte so gefestigt sind, dass ein paar Euro mehr sie nicht interessieren – diese Theorie teile ich überhaupt nicht. Da wird 10000-Euro-weise ganz genau hingeguckt. Die Aufsichtsräte sollten völlig frei sein und nicht nach der Sitzung auf der Heimfahrt im Kopf durchrechnen, was ihnen eine Dividende bringt oder was sie der Wegfall kostet. Eine feste Vergütung muss aber mehr betragen als 4000 Euro. Gerade wenn ein Unternehmen in der Krise steckt und die Dividende ausfällt, hat ein Aufsichtsrat doch am meisten zu tun. Gibt es dafür am Jahresende 4000 Euro, ist das unangemessen.
Zeit: Wie viel verdient ein Aufsichtsrat bei Ihnen?
Heraeus: Etwa 20000 Euro.
Zeit: Deutschlands Aufsichtsräte haben sich in letzter Zeit nicht mit Ruhm bekleckert. Sind die Kontrolleure zu schwach, weil sie von denen ausgewählt werden, die sie eigentlich kontrollieren sollen: den Vorständen?
Heraeus: Natürlich ist es oft so, dass der Vorstand, der überwacht werden soll, mehr oder weniger wesentlich daran mitwirkt, wer in den Aufsichtsrat kommt. Jemand, der sehr schwierig ist, wird dann nicht vorgeschlagen.
Zeit: Wie suchen Sie Ihre Aufsichtsräte aus?
Heraeus: Ich mache unserem Gesellschafterausschuss Vorschläge, beschreibe die Vorteile, und dann kommt schon mal die Frage auf, ob man sich nicht mehrere Kandidaten anschauen kann. Das aber ist in Deutschland leider nicht möglich. Man kann namhaften Leuten nicht sagen, jetzt kommen Sie mal zum Vorstellungsgespräch.
Zeit: Ein Vorstand bewirbt sich doch auch…
Heraeus: Ja, und im Grunde müsste das auch für Aufsichtsräte gelten. Aber wie gesagt: das ist nicht üblich.
Zeit: Ist der Corporate Governance Kodex das richtige Mittel, um die Werte des ehrbaren Kaufmanns wiederzubeleben?
Heraeus: Es ist gut, wenn die Leute sich damit beschäftigen und hoffentlich entdecken, dass vieles im Kodex eigentlich selbstverständlich ist und sie das besser schon vorher so gemacht hätten. Wenn nun aber auch die EU an neuen Spielregeln arbeitet, entsteht bloß ein Gestrüpp von Regeln, das die Arbeit erschwert. Das bringt keine Werte zurück. Außerdem wird dem Aufsichtsrat eine Rolle zugesprochen, die er gar nicht ausfüllen kann.
Die Zeit: Inwiefern?
Heraeus: Es ist völlig illusorisch zu glauben, ein Aufsichtsrat könne mit drei, vier oder zehn Sitzungen im Jahr den Vorstand eines großen Unternehmens wie Bayer, BASF oder DaimlerChrysler so kontrollieren, dass nichts mehr passiert. Die Politik will den Eindruck erwecken, es werde alles getan, damit sich ein Fall wie Enron nicht wiederholt. Das ist Unsinn. Inzwischen ist rund um das Thema Aufsichtsrat ein ganzer Wirtschaftszweig entstanden. Die Personalberater haben entdeckt, dass sie auch Aufsichtsratsmitglieder vermitteln können. Dazu kommt die Auditierung des Aufsichtsrats, die Beurteilung seiner Arbeit, wie sie der Cromme-Kodex fordert. Da geht der Kodex zu weit.
Zeit: Sie fordern die Rückkehr zum Leitbild des ehrbaren Kaufmanns. Wie ist eigentlich die Resonanz bei den Unternehmen?
Heraeus: Man bekommt viel Resonanz, verliert aber auch Freunde.
Jürgen Heraeus ist Aufsichtsratschef der Heraeus Holding in Hanau. Das Familienunternehmen stellt Werkstoffe für Computerchips und Dentallabors her.
Der 66-Jährige will sich am Dienstag kommender Woche zum Aufsichtsratschef des angeschlagenen Konzerns mg technologies wählen lassen