"Wir brauchen einen dritten Weg"
Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 29.06.2009
Interview Im Westen verschafft Geld Anerkennung, kritisiert der Berater Fredmund Malik. In China ist das anders. Von Michael Heller
Die große Reform der Finanzwelt, die künftige globale Krisen vermeiden könnte, ist bisher ausgeblieben. Gleichwohl sieht der renommierte Unternehmensberater Fredmund Malik Anzeichen dafür, dass sich die Welt nach dem Beinahezusammenbruch der Finanzmärkte ändert. Der Trend zur immer weiter gehenden Ökonomisierung der Gesellschaft ist nach seiner Ansicht gebrochen.
Herr Malik, Anfang Oktober 2008 haben Sie angesichts der sich ausbreitenden Finanzkrise gesagt: "Der Finanzkapitalismus ist am Ende. Und das ist gut so." Die Bedeutung der Börsen hat aber kaum abgenommen. Haben Sie sich womöglich getäuscht?
Nein, der Todeskampf eines solchen Systems dauert seine Zeit. Im Oktober wurde der Anfang vom Ende eingeleitet. Historisch ist diese Krise mit keiner anderen vergleichbar; am ehesten noch sind Analogien zu den dreißiger Jahren zulässig. Damals, nach dem Einbruch der Aktienmärkte im November 1929, gab es ein wahres Kursfeuerwerk, und bis April 1930 waren die Verluste zur Hälfte wieder aufgeholt. Alle Welt glaubte, die Krise sei überstanden. Aber dann hat das eigentliche Desaster erst begonnen. Die Kurse sanken bis 1932 auf zehn Prozent der ursprünglichen Höchstwerte. Vieles spricht dafür, dass die aktuelle Krise einen ähnlichen Verlauf nimmt, wenn man nicht gänzlich neue Wege geht.
Das Schlimmste steht uns also noch bevor?
Davon gehe ich aus. Es ist zumindest ungeheuer leichtfertig, jetzt schon Entwarnung zu geben, so wie das teilweise geschieht.
Sie haben die Gier nach immer höheren Gewinnen und immer höheren Börsenkursen als Denkverseuchung beschrieben. Sind wir bei der Entgiftung vorangekommen?
Zumindest wurde deutlich erkannt, dass es tatsächlich Gier ist, und dass sie Gift ist, und überall sind Maßnahmen dagegen auf dem Wege - Stichwort Bonusdebatte. Die nötige volle Einsicht ist aber noch nicht da; sie wird mit dem nächsten Schub nach unten an den Finanzmärkten kommen, der entweder jetzt bereits begonnen hat oder im Spätsommer bevorsteht.
Ist auch unsere grundsätzliche Fixierung auf Wirtschaftswachstum solch eine Denkverseuchung? Der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel spricht von Wachstumswahnsinn.
Das stimmt. Wachstumsfixierung ist eine falsche Denkweise, solange nicht zwischen gesundem und krankem Wachstum unterschieden wird - am stärksten wächst bekanntlich Krebs und der ist tödlich. Das Wachstum der Finanzmärkte hat erkennbar keinen Wohlstand geschaffen, sondern deren eigenen Kollaps.
Können wir auf Wachstum verzichten?
Die Wirtschaft darf nicht im Primitivstadium des quantitativen Wachstums gefesselt bleiben. Wir waren auf diesem Gebiet früher sogar schon einmal weiter. Dann sind wir durch den neoliberalen Finanzkapitalismus wieder zurückgefallen in die Steinzeit. Es wurde nicht Wohlstand gemessen, sondern nur Geldvolumen, das in Wahrheit ein Schuldenberg war.
Aber Wachstum hat den Vorteil, dass es die Verteilungskämpfe entschärft; sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch global.
Krankes Wachstum verschärft das Verteilungsproblem. Wir sehen, dass gerade das kranke Wachstum die Krise mit herbeigeführt hat. Weil diese an die Existenzgrundlagen vieler Menschen geht, muss wie immer in der Geschichte in solchen Fällen mit sozialen Verwerfungen gerechnet werden. Die Kämpfe werden nicht um das Verteilen von Zuwachs, sondern um die relativ geringsten Einbußen geführt.
Die deutsche Wirtschaft wird in diesem Jahr voraussichtlich um sechs Prozent schrumpfen. Gleichwohl ist in der Bevölkerung von Katastrophenstimmung nichts zu spüren. Liegen die Leute falsch?
Leider. Sobald der nächste Schub nach unten kommt, wird die Stimmung negativ. Die Arbeitslosigkeit wird massiv steigen; mit Kurzarbeit wird das nicht mehr abgefedert werden können.
Die zurückliegenden Jahre waren von einer Ökonomisierung der Gesellschaft geprägt, ob im Gesundheitswesen oder dem Bildungssystem. Ist dieser Trend gebrochen?
Ja, aber es fehlt noch die sichtbare Alternative. Einige Leute äußern dazu zwar gescheite Gedanken - aber die Lösungen fehlen. Das Denken ist gefangen zwischen den Polen Kapitalismus und Sozialismus. Beide Systeme sind gescheitert. Ich schlage einen dritten Weg vor, den ich Funktionismus nenne. Denn das Funktionieren der Gesellschaft und ihrer Organisationen muss wieder hergestellt werden.
Der Wert der Arbeit scheint ungebrochen zu sein. Handeln die Politiker in Deutschland also richtig, wenn sie im Wahlkampf damit punkten wollen, dass sich gerade ihre Partei besonders für Arbeitsplätze engagiere?
Natürlich, denn was sollen die Menschen ohne Arbeit tun? Sie werden bereit sein, um jeden Lohn zu arbeiten, weil sie sonst den Sinn ihres Lebens verlieren. Wichtig ist aber die Frage, welche Arbeit verrichtet wird. Unter anderem wird gemeinnützige Arbeit in den Vordergrund treten. Die Menschen werden sich selber helfen. Es wird mehr um Arbeit gehen, die Sinn bringt statt nur Geld. Das ist eine gute Entwicklung hin zu einer neuen Menschlichkeit und zur Ächtung von Egozentrismus. Zwar werden nicht alle so denken und handeln, das ist auch nicht nötig. Es genügt die kritische Zahl an Vorbildern, das heißt etwa 10 bis 15 Prozent, vielleicht 20 Prozent.
Sehen Sie Ansätze dafür, dass irgendwo eine Welt entsteht, in der es nicht in erster Linie um Geld und Wachstum geht?
China geht diesen Weg. Das Land ist offen gegenüber dem Ausland, versucht sich aber unabhängig zu halten und forciert den Binnenmarkt. Die Chinesen wollen keine Amerikanisierung. Ihr Vorteil ist, dass es nicht diese krankhafte Wucherung des Finanzwesens wie in den Vereinigten Staaten gibt.
Aber China gebärdet sich extrem kapitalistisch, und mit der Demokratie ist es auch nicht weit her. Das ist doch alles andere als vorbildlich.
Tatsächlich ist China weit weniger kapitalistisch, als es in westlichen Medien dargestellt wird. Aber ich sage nicht, dass die chinesische Gesellschaft für uns vorbildlich ist, sondern dass sie anders ist. In China hängt zum Beispiel der soziale Status nicht mit Geld zusammen, sondern mit der erreichten Position in Politik, Verwaltung, Partei und Militär. Man lässt reiche Leute reich sein, aber sie sind deshalb nicht höher angesehen. Zudem ist China das einzige Land, in dem die Partei tatsächlich die Politik bestimmt. Ein Durchgreifen im Notfall für die soziale Stabilität ist in den westlichen Demokratien extrem schwer, weil sie durch Interessenkämpfe behindert sind. Die Chinesen haben eine beinahe unlimitierte Zentralmacht, die zwar auch ihre Gefahren hat, in der aktuellen Situation - und ich sage das als überzeugter Demokrat - wird sich das aber als großer Vorteil erweisen. China ist lenkungsfähig, die USA sind es nicht, und am wenigsten scheint es Europa zu sein.
Alle Staaten bekämpfen die Krise mit Hilfspaketen von gigantischem Ausmaß und verschulden sich immer mehr. Wohin wird das führen?
Die Schulden können mit und ohne Wachstum nicht mehr abgetragen werden. Wir haben schlicht das Geld unserer Enkel ausgegeben. Vorerst gibt es nur die Möglichkeit der Deflation, die jetzt in vollem Gange ist. Das ist neu für die allermeisten Menschen. Die wenigsten können sich vorstellen, was da passiert.
Helfen Sie uns: Was wird da passieren?
Zunächst einmal geht das zulasten der bisherigen Gläubiger, denn die müssen ihre Forderungen abschreiben. Die Preise sämtlicher Sachwerte werden sinken, weil die Leute durch Verkäufe um jeden Preis liquide Mittel beschaffen müssen, um ihre Kredite zurückzuführen. Die Aktienkurse werden daher massiv sinken, so wie in den dreißiger Jahren. Im Extremfall kommt es später zu einer Währungsreform mit Vernichtung aller Schulden, aber eben auch aller Nominalguthaben. Allerdings geht es auch anders, aber nur, wenn man Wissen und Mut für ganz neue Lösungen hat.