Walter Jens
Der Mann seines Lebens
Von Iris Radisch
Tilman Jens verklärt und denunziert seinen an Demenz erkrankten wehrlosen Vater Walter Jens
Warum schützt den Vater niemand vor seinem Sohn? Vier Tage lang versorgte der Journalist Tilman Jens in der vergangenen Woche unter dem Titel Das lange Sterben des großen Walter Jens die Bild- Leser mit intimen Details aus dem Windeleimer seines kranken Vaters. Die Bild-Serie, die in ihrer Verschwurbelung von merkantilen und exhibitionistischen Leidenschaften nur von den nackten Brüsten der Bild- Zeitungsleserinnen auf der ersten Seite des Blattes überboten wird, war ein Vorabdruck des in diesen Tagen erscheinenden Buches aus der Feder des ältesten Sohnes des großen, an Demenz leidenden Gelehrten Walter Jens. Fassungsloses Staunen. Woher weiß der Sohn, was er zu wissen vorgibt: dass sein berühmter Vater mit dieser investigativen Homestory über die väterliche Spielknete und die väterlichen Babypuppen im höchsten Maße einverstanden wäre? Und wem außer dem voyeuristischen Boulevard nutzt dieser Report aus der Krabbelgruppe des gelehrten Mannes?
Aber der Reihe nach. Am 4. März 2008 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel von Tilman Jens, der exklusiv enthüllte, dass sein Vater aus Scham über seinen angeblichen, lebenslang verheimlichten Eintritt in die NSDAP im September 1942 nachts in Tübingen sein Bett nicht mehr finde. Die Diagnose des selbst ernannten Familien-Arztes lautete: historisch-politische Demenz. Das umkräuselte die ehrlose Entblößung seines wehrlosen Vaters mit pseudopolitischen Girlanden. Denn anders als die meisten Historiker hatte der Sohn keinen Zweifel daran, dass die durch das Deutsche Germanistenlexikon im Jahr 2003 publik gemachte NSDAP-Mitgliedschaft seines Vaters auf bestem, also ordentlichem nationalsozialistischem Amtsweg zustande gekommen sein musste.
Die Karteikarten der NS-Registratur, die seine Mitgliedschaft bekunden, erschienen ihm vertrauenerweckender als die Beteuerungen seines Vaters und vieler anderer Prominenter wie Martin Walser und Peter Wapnewski, die sich alle an einen bewusst vollzogenen Parteieintritt nicht erinnern und geltend machen, womöglich unwissentlich in die Parteilisten geraten zu sein. Für den Journalisten Tilman Jens liegt die Wahrheit jedoch bei der Nazibürokratie, nicht bei seinem Vater. Und diese Wahrheit – das ist die Kernthese der unrühmlichen Zeitungsdenunziation und des kleinen Buches – war es, die seinen beschämten Vater angeblich in die »fatale Schweige-Krankheit« trieb, »an der so viele Köpfe zerbrachen«.
Dieser Gedanke ist so abwegig, so weit entfernt von jeder medizinischen Vernunft, dass man ihn – lässt man seinen verleumderischen Kern für einen Augenblick außer Acht – fast schon literarisch nennen kann. Die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag hat diesem Gedanken einen unvergesslichen Namen verliehen. Sie nannte ihn »Krankheit als Metapher«. In ihrem gleichnamigen Buch beschreibt sie, wie sich Straf- und Gefühlsfantasien in allen Jahrhunderten mit bestimmten Krankheiten verknüpften. An der Pest trugen die Juden die Schuld, die Tuberkulose verdankte sich einem ungezügelten Affektleben, der Krebs hingegen einem allzu gezügelten. Solche Mythologisierungen weitverbreiteter Volkskrankheiten wurden nicht zuletzt durch die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts geadelt. Die Tuberkulosekranken sind dort zuverlässig aus Subtilitätsgründen am Leben versagende Charaktere (Kafka nannte seine Tuberkuloseerkrankung »nur ein Sinnbild« für seinen »allgemeinen Bankrott«). Die Krebskranken sind die ängstlichen, ums Saftstück des Lebens gebrachten Kümmerlinge (wie der sterbende Held in Fritz Zorns Lebensabrechnung Mars). Die Cholera im Tod in Venedig bestraft gesellschaftlich unerwünschte sexuelle Begierden.
Die Dämonisierung der Demenz durch Tilman Jens, der aus der Krankheit seines Vaters eine politische Metapher macht und den Kranken mittels dieses Manövers für seine Krankheit schuldig spricht, hat nebenbei noch einen zweiten, beinahe rührenden Effekt. Der große Vater – Tilman Jens nennt ihn »die Portalfigur seines Lebens« – ist in der romantisierenden Lesart des Sohnes nicht einfach nur krank, er ist mehr als krank, er ist bedeutsam krank. Der kleine Voltaire der alten Bundesrepublik stirbt in seiner Tübinger Dachstube an nichts Geringerem als einer hochbrisanten politischen Infektion. Wer da an den politisch-dementen Hölderlin in seinem Tübinger Turm denkt, der erfährt bei Tilman Jens: »Hölderlin in seinem Turm hatte es besser« als sein Vater. Doch das ist offenbar auch schon der einzige Unterschied zwischen den beiden dementen Tübinger Berühmtheiten.
An dieser Stelle wird aus Denunziation Verklärung. Aber die ist möglicherweise nur eine weitere austauschbare Metapher für eine quälende, unausgereifte Auseinandersetzung mit einem väterlichen Standbild, deren unfreiwilliger Zeuge die kopfschüttelnde Öffentlichkeit in diesen Tagen wird. Der Abrechnungscharakter dieses »Mami« gewidmeten Vaterbuches legt eine falsche Spur. Denn diese Vater-Sohn-Geschichte gehört nicht in die Reihe der großen literarischen Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Übervätern wie Bernward Vespers Reise, Ute Scheubs Vatersuche oder Christoph Meckels Suchbild. Über meinen Vater.
Man sollte es eher dem Buch eines anderen durch ein väterliches Standbild demolierten Sohnes an die Seite stellen: dem vorzüglichen Vaterroman Andenken von Lars Brandt. »Der Pakt mit der Öffentlichkeit«, den sein Vater geschlossen hatte, schreibt dieser Sohn, stellte klar, »dass es in allem mehr gab als uns beide«. Einen Vater, den man als Münze im Portemonnaie trägt, der einem als Willy-Brandt-Platz den Weg verstellt, den hatte man nicht. Den, schreibt Lars Brandt, gab es nur in der »kuriosen Form der Verdinglichung«. Und diese Verdinglichung störte die »klare Leitung« zwischen der Welt und dem Sohn.
Nicht ganz so, aber doch ein wenig so mag es Tilman Jens mit dem »Mann seines Lebens« ergehen. Wer auf die Zwischentöne achtet, wenn das stets angeregte Tischgespräch der Eltern, das abendliche Deklamieren aus den eigenen Manuskripten, die Gutenachtgeschichten aus dem deutschen Literaturbetrieb noch einmal beschworen werden, kann jene gestörte »Leitung« zwischen Welt und Sohn, von der Lars Brandt sprach, leise rauschen hören. Der echte Vater, nicht diese Portalfigur linker Intellektualität, die an der »Droge Publikum« hing wie an seinen Medikamenten, wird durch den Sohn in diesem Buch zurückerobert. Indem er die »Portalfigur« vom Sockel kippt, eignet er sich den »kreatürlichen Vater« wieder an, den er womöglich nie gehabt hat. Einen Vater, der mit Karnickeln spielt und sich nach Jungenart über Kirschsaft freut.
Die letzten Passagen über den am Rockzipfel seiner Pflegerin heiter Wurstweckle verdrückenden Greis sind von unbeschwerter Zärtlichkeit. Ohne die selbst gebastelte Entlastung von dem linksintellektuellen Erbe der Bundesrepublik, das Walter Jens verkörpert hat, wäre sie dem Sohn vielleicht verwehrt geblieben. Und so ist der Denkmalsturz, als der dieses empörende Buch in Erinnerung bleiben wird, am Ende ein Beweis einer enttäuschten, irregeleiteten Liebe.
DIE ZEIT, 19.02.2009 Nr. 09