Artikel für Anstöße 3/2010
Ein stummer Schrei gegen die Verzweiflung - von Eberhard Braun
Alles wird überschrieen vom grellen: Wachstum, Wachstum, Wachstum!
Ich sehe sie pflügen (ein Neues?). Ich sehe die Stadt umgegraben, Bäume ausgerissen, Gewachsenes niedergemäht: das Alte ist vergangen, ganz Neues soll werden.
Das Evangelium der fortgeschrittenen Zivilisation: Wachstum! Verdrängungskampf der Regionen. Sich gut aufstellen für die Zukunft!
Ich gehe mit dem Kind zum Parkhaus neben dem Bahnhof: Marmor, Stahl, Glas und die Rampe! „Big aeroplane!“ sagt das Kind - es kommt gerade vom Flughafen - und öffnet mir die Augen. So ist es: das Parkhaus - ein Bahnhof; der Bahnhof - ein Flughafen; der Flughafen - ein Bankenviertel und Stuttgart ist Frankfurt und Singapur und New York und Sydney. Es glänzt überall gleich. Es riecht nach fast food und über allem leuchtet die Welteinheitswerbung und alles ist ein Brei, in dem das Leben - mein Leben und deins und eures und ihrs und das des Kindes – uniform erstickt.
Aber der Fortschritt! Der muss wachsen. Das Wachstum muss wachsen, sonst sind wir verloren! Du sollst dir ja nicht lassen genügen, an dem was ist und was du hast! Das wäre die Sünde wider den Geist. Unverzeihlich! Du sollst immer mehr wollen und unzufrieden sein. Du sollst Bedarf haben, immer neuen Bedarf und konsumieren und wegwerfen und immer schneller unterwegs sein: Hierhin und dahin und dorthin, wo es ist wie dort und da und hier.
Obwohl! Ganz so ein einheitlich ist es dann doch nicht, denn hier gibt es mehr von denen, die viel haben und dort mehr von denen, die garnix haben. Die Vielhaber sieht manfrau bei den Glaspalästen, die Nixhaber meist nicht, sie wurden und werden vertrieben, entsorgt zugunsten rentablerer Nutzung im Dienste des Wachstums.
Fortschrittshinderer aber - ein trübes Motiv im Hochglanz? Geht nicht, sagt das Kind und hat Recht.
Ein paar Kilometer weiter geht ein gebeugter Mann über ein Feld mit gelben Rüben.
Was macht der denn da, fragt das Kind und ich frage ihn: was machen sie denn da?
Ich sammle Raupen, sagt er. Und ich sage zum Kind: Er sammelt Raupen.
Was für Raupen, fragt das Kind. Und der Mann sagt: Schmetterlingsraupen - Raupen vom Schwalbenschwanz.
Und was tust du mit den Raupen, machst du sie kaputt?
Nein, sagt der Mann: Ich nehme sie mit heim, damit sie nicht untergepflügt werden und sterben. Dann füttere ich sie und wenn aus ihnen Schmetterlinge geworden sind, lasse ich sie frei – einfach so, sagt der Mann, und wirft die Arme in die Luft.
Und warum tust du das? fragt das Kind den Mann.
Er sagt: Es gibt Dinge, die müssen getan werden.
Seit ich denken kann, gibt es Schwalbenschwänze, die muss es auch dann noch geben, wenn Stuttgart und Ulm nur noch eine halbe Stunde von einander entfernt sind.
Und Fledermäuse und Insekten und Bienen und Bäume und Blumen:
Wenn es sie nicht geben sollte, gäbe es sie doch nicht, sagt der Mann.
Die können doch nicht einfach verschwinden!
Ich fühle mich zuständig für die Raupen der Schwalbenschwänze.
Andere sind zuständig für Bienen und Bäume und Parks und Kinder.
Aber, sage ich, hat das denn einen Wert?
Das weiß ich nicht, sagt der Mann. Es muss halt getan werden.
Und ich denke: schau dir den an! Ist das nun ein Ewiggestriger oder ein weit Vorausschauender?
Er sammelt Raupen und lässt Schwalbenschwänze fliegen – ein stummer Schrei gegen die Verzweiflung.
Antwort an Siegfried Bös (28.11.2010)
Lieber Siegfried, danke für Deine wohlwollende Reaktion auf meinen Schmetterlingstext. Die Geschichte mit dem Wachstum ist tatsächlich richtig schwierig. Spannend fand ich dazu in letzter Zeit dieses Buch
Ich habs als Hörbuch beim Zugfahren gehört und vieles darin gefunden, was ich auch so oder ähnlich sehe. Dass die Produktivität von Betrieben jährlich um 4% wachsen muss um den Stand des Vorjahrs zu halten, ist unfassbar. Und in der jetzigen Form - Ressourcen und Energieverbrauch, Umweltbelastung etc. ist es absolut zerstörerisch. Undenkbar, dass der Planet es überleben kann, wenn Indien und China auf unseren Stand etwa bei mineralölgetriebenen Autos kommen. Ob wir es als Gesellschaft und in der weltweiten Gemeinschaft lernen werden, anders zu wachsen und Wohlstand anders zu definieren, ist fraglich. Dass der krasse Materialismus aus der Mitte der traditionell christlichen Nationen kommt, ist mir eine so große Anfechtung, dass ich es fast gar nicht beschreiben kann. Und dass ich daran partizipiere! Wir handeln und leben voll konträr zu dem, was der Bergprediger sagt. Ich lebe und handle so. Das ist schlimm!
Wie so etwas aufzulösen wäre, weiß ich nicht, aber dass es (fast)gar nicht mehr benannt wird und in den Kirchen nicht mehr und öffentlich über Alternativen nachgedacht wird, stimmt bedenklich. Z.B. dass wir, wenn wir schon Öl, Gas, Kohle, Uran und was nicht noch alles aus der Erde holen, dieser Erde und damit künftigen Generationen etwas dafür zurückgeben müssten (wie beim Wald: Aufforstung). Angenommen so was würde dann in den Preis für die Ressourcen einfliessen, dann wäre fossile Energie so teuer, dass die Entwicklung und Nutzung erneuerbarer Energien selbstverständlich wäre. Es würde sich rechnen und auch wachsen! Und vielleicht würde sich dann auch Reparatur, Wiederverwendung, schonender Umgang mit Produkten wieder lohnen...
Wie weit wir davon entfernt sind, ist deutlich....