Betr. Ein innenpolitisches Beben, Stuttgater Zeitung 12.8.2010
Sehr geehrter Herr Birkenmaier, ich möchte Ihnen für die Erinnerung an die Unterzeichnung des Moskauer Vertrags vor 40 Jahren herzlich danken. Sie nennen eine Reihe von Faktoren und Personen, die an jenen Ereignissen beteiligt waren. Dabei hätte vielleicht auch an die Rolle der evangelischen Kirche erinnert werden können. Sie hat vor 45 Jahren mit ihrer so genannten „Ostdenkschrift“ das Tabu der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gebrochen und den Boden für die genannten Entscheidungen vorbereitet.
In der Vorgeschichte dieser Denkschrift hatten acht prominente Protestanten - darunter der Nobelpreisträger Werner Heisenberg, der Naturwissenschaftler Carl Friedrich von Weizsäcker und der Jurist Ludwig Raiser - 1961 das "Tübinger Memorandum" verfasst und gefordert eine aktive Außenpolitik solle zwar an der Wiedervereinigung im europäischen Kontext festhalten, aber durch Verzicht auf die ehemaligen Ostgebiete einen Beitrag zur Entspannungspolitik leisten. In der Denkschrift «Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn», veröffentlicht am 1. Oktober 1965, wurden die Vertreibungen eindeutig als Unrecht bezeichnet. Andererseits konnte gesagt werden: „Die leidvolle Geschichte deutscher Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber dem immer wieder seiner politischen Selbständigkeit beraubten polnischen Volk und die völkerrechtswidrige Behandlung, die dieses Volk während des Zweiten Weltkrieges auf Anordnung der nationalsozialistischen Staatsführung erfuhr, stellt uns heute unausweichlich vor die Frage, ob sich daraus nicht politische, vielleicht aber auch völkerrechtliche Einwendungen gegen einen deutschen Anspruch auf unverminderte Wiederherstellung seines früheren Staatsgebietes ergeben.“
Ein Sturm der Empörung brach los. Kern der Auseinandersetzung war die Forderung, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Der EKD wurde vorgeworfen unter der Maske der Versöhnung eine Propaganda des Verzichts voranzutreiben.
Robert Leicht urteilte 2005 in der „ZEIT“:
„Diese Denkschrift zählt zu den wichtigsten Initiativen, welche die vier Jahre später einsetzende neue Ost- und Deutschlandpolitik des seit dem Herbst 1969 amtierenden Kabinetts Brandt/Scheel vorbereitet hat. Eine Politik, die 1970 zum Gewaltverzichtsabkommen zwischen Polen und der Bundesrepublik führte...
Mit freundlichen Grüßen
Ihr