– Gemeinsame Erklärung –
Wir sind Theologinnen und Theologen aus Baden-Württemberg mit unterschiedlicher theologischer und politischer Prägung. Uns verbindet, dass wir das Bauprojekt „Stuttgart 21“ kritisch sehen, auch aus theologischer Perspektive.
Wir wissen wohl, dass es auch Argumente pro S21 gibt. Und wir bestreiten nicht, dass sich auch Christen pro S21 aussprechen können.
Nach Gewichtung der Fakten und Abwägung der Argumente sind wir zu der Überzeugung gekommen: K21 bietet die deutlich bessere Konzeption. Warum wir S21 ablehnen, legen wir im Folgenden in knapper Form dar.
Bei den Gesprächen am Runden Tisch gab es zwar in einigen Punkten Präzisierungen zu S21, wichtige Fragen blieben jedoch offen. Insbesondere stellt sich die Frage nach Sinn und Nutzen von S21 noch deutlicher.
Deshalb sagen wir – mit unterschiedlicher Gewichtung:
1. S21 ist ein Projekt menschlicher Überheblichkeit
Das Gebot, Gottes Schöpfung zu bebauen und zu bewahren (1.Mose 2,15), schließt menschliche Selbstherrlichkeit aus. Darauf weist die biblische Tradition in vielfältiger Weise hin, beginnend mit der Überlieferung vom Turmbau zu Babel (1.Mose 11).
Für S21 muss ein gigantischer Aufwand an Tunnelbauten und Maßnahmen zum Schutz von Mineral- und Grundwasser betrieben werden, ohne dass dem ein entsprechender zusätzlicher Nutzen gegenüber stünde.
Wir setzen uns dafür ein, dass technologischer Fortschritt nicht als Selbstzweck gilt. Komplexe, beim Bau und im Betrieb störanfällige, risikobehaftete Technologien ohne nennenswerten Nutzen lehnen wir ab.
2. S21 stellt nicht die Lebensqualität in den Mittelpunkt
Wir verstehen die Klagen der Propheten, ihre Anklagen gegen soziales Unrecht und Jesu Warnung vor dem Mammon als Absage an eine Haltung, mit der in erster Linie materieller Vorteil und Gewinn angestrebt werden. Sie schadet und widerspricht dem aus jüdisch-christlicher Tradition gewonnenen Menschenbild. Bei S21 steht eine „Höher-schneller-weiter-Ideologie“ im Mittelpunkt. Dafür sollen Bäume gefällt oder umgesetzt werden, die aber genau in der durch Feinstaub hoch belasteten Stadtmitte gebraucht werden. Und dafür soll das Gleisvorfeld einer Bebauung weichen, obwohl es für die Kühlung des Talkessels wichtig ist.
Wir setzen uns dafür ein, dass Stadtplanung ausgeht vom Bedarf der Bürgerinnen und Bürger an humaner Lebensqualität. Sie hat sich zu orientieren an bewohnerfreundlicher Weiterentwicklung des sozialen Lebens. Dies bedeutet wirkliche Zukunftsfähigkeit.
3. S21 bevorzugt die Starken zum Nachteil der Schwachen
Unantastbare Würde ist allen Menschen von Gott zugesprochen.
Gleichwohl gilt nach biblischem Zeugnis die „vorrangige Option für die Schwachen“. Nach biblischer Tradition hat sich Gott selbst zum Anwalt der Schwachen gemacht. Deshalb sollen und müssen Christen deren Sache zu der ihren machen. Vorgebliche „Neutralität“ gegenüber Starken und Schwachen stellt sich faktisch auf die Seite der Starken.
S21 ist nicht behindertenfreundlich und verschlechtert die Verkehrssituation in der Stadt und der Region. Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier lediglich eine kleine wirtschaftliche und politische Interessengruppe ihre eigenen Interessen verfolgt.
Wir setzen uns dafür ein, dass öffentlicher Raum nicht Investoren und Spekulanten überlassen wird. Entscheidungsgremien – auch eine „Stiftung“ – haben insbesondere Menschen mit eingeschränkten wirtschaftlichen, sozialen und körperlichen Möglichkeiten zu berücksichtigen.
4. S21 geht fahrlässig mit der Schöpfung um
Durch die biblische Überlieferung von der Schöpfung, durch die darin enthaltene Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit sehen wir uns in der Verantwortung, zu Schutz und Pflege der Schöpfung aktiv beizutragen.
Für S21 werden zahlreiche wertvolle alte Bäume gefällt (die Durchführbarkeit der geforderten Umsetzung von Bäumen ist unter Biologen höchst fraglich). Im Gegenzug wird aber keineswegs der Bahnverkehr so verbessert, dass ein derartiger Eingriff in die Natur vertretbar wäre.
Wir setzen uns dafür ein, dass für Stuttgart und die Region eine Bahninfrastruktur ausgebaut wird, die dem Bedarf an Mobilität in den kommenden Jahrzehnten gerecht wird, jedoch nicht nur unter ökonomischen, sondern vor allem unter ökologischen Gesichtspunkten. Im Alternativprojekt K21 liegen dafür sinnvolle Überlegungen vor.
5. S21 wird mit Defiziten an Vertrauenswürdigkeit geplant und durchgesetzt
Menschliches Zusammenleben kann nach biblischem Verständnis nur gelingen, wenn es auf Vertrauen beruht. Vertrauen kann jedoch nur wachsen, wenn nichts Unwahres gesagt, nichts verschwiegen und der Andere nicht im Irrtum gelassen wird.
Ein Großteil der angeblichen Vorteile und Chancen von S21 (Leistungsfähigkeit, „europäische Magistrale“, Fahrzeitverkürzungen, Kosten, ökologische Tauglichkeit u.a.m.) hat sich im Zuge des Runden Tischs als überzogen, aufgebauscht oder schlicht unwahr erwiesen.
Wir setzen uns für eine politische Kultur der Wahrhaftigkeit ein, in der maßgebliche Fakten öffentlich gemacht werden, in der ein offener Dialog zwischen Politik und Wählern geführt wird, in der demokratische Gremien ihre Entscheidungen fortwährend auf ihre Legitimität hin überprüfen lassen. Dazu gehört auch die Möglichkeit der Umkehr, d.h. Abkehr von überholten, auf unzureichenden oder falschen Annahmen beruhenden Entscheidungen.
6. S21 wird teilweise unter Missbrauch staatlicher Institutionen vorangetrieben
Nach reformatorischem Verständnis hat einerseits der Staat die Aufgabe, mittels seines Gewaltmonopols Recht und eine lebensdienliche Ordnung zu schaffen. Andererseits hat die Kirche und haben die Christen die Aufgabe, diesen Staat und seine Handelnden öffentlich zu kritisieren, wo sie dieser Aufgabe nicht ausreichend nachkommen.
Bei der Entwicklung und Durchsetzung von S21 sind parlamentarische Gremien durch falsche, fehlende oder irreführende Informationen getäuscht worden, Politiker haben sich einseitig an den Interessen von Wirtschaftsakteuren orientiert, Recht wurde lediglich formal eingehalten, das staatliche Gewaltmonopol wurde missbräuchlich und unverhältnismäßig gegen Demonstrierende eingesetzt und ein Bürgerentscheid bis heute verhindert.
Wir setzen uns für eine Rechtsordnung und eine politische Kultur ein, in der staatliches Handeln nicht von einzelnen Interessengruppen bestimmt wird. An wichtigen Stellen wie einem Großprojekt soll die Bevölkerung rechtzeitig und vorher umfassend informiert mit einbezogen werden. Gewaltsames Vorgehen staatlicher Organe gegen Bürgerinnen und Bürger, die Grundrechte legitim wahrnehmen, ist inakzeptabel.
Schlussbemerkung
Missverständnisse möchten wir vermeiden. Auch wenn wir ein Amt in der Kirche inne haben oder hatten, so äußern wir uns nicht „im Namen der Kirche“. Das soll der Kirchenleitung überlassen bleiben.
Wir nehmen unser Ordinationsversprechen ernst, in dem „das Evangelium von Jesus Christus“ an erster Stelle steht. Deshalb äußern wir uns als Bürgerinnen und Bürger in theologischer Verantwortung zu Vorgängen, die eine große Anzahl von Menschen, darunter viele Gemeindeglieder, bewegen.
Stuttgart, im Dezember 2010
Erstunterzeichner und -unterzeichnerinnen:
Burkhard Bartel, Hans-Eberhard Dietrich, Friedrich Gehring, Annette Keimburg, Karl Martell, Guntrun Müller-Enßlin, Martin Poguntke, Wolfgang Schiegg, Martin Schmid-Keimburg, Albrecht Wittmann
Wir laden Kolleginnen und Kollegen ein, diese Erklärung mit zu unterzeichnen. (Die Namen werden mit dieser Erklärung veröffentlicht.)
Außerdem freuen wir uns über engagierte Menschen aller Professionen, die diese Erklärung mit ihrer Unterschrift unterstützen.
(Die Namen werden ebenfalls mit dieser Erklärung veröffentlicht.)
Bitte senden Sie Ihre Unterzeichnungs- bzw. Unterstützungserklärung mit Angabe, ob Sie Theologin bzw. Theologe sind,
an Tilmann Fischer (t.fischer@t-a-f.info)!